4. »Lasse auch das Heilmittel sich natürlich befreien«

Die Nicht-Existenz der Leerheit (oder die Leerheit der Leerheit)
Lama Lhündrup kommentiert: Die Instruktionen, die wir erhalten, sind Heilmittel. Der erste Merkspruch über die traumgleiche Natur der Erscheinungen ist ein Heilmittel gegen unser Haften an Erscheinungen. Der zweite Spruch ist ein Heilmittel gegen unser Haften an diesem Gewahrsein als ein Ich oder Selbst.
Jetzt kann es aber sein, dass wir zu dem Schluss kommen, weder ich selbst noch die Erscheinungen existieren wirklich, alles ist illusorisch, leer. Wir machen aus der illusorischen Natur und der Leerheit etwas wirklich Existierendes.
Das wird dazu führen, daß wir die vermeintliche Erkenntnis verfestigen, die wir gemacht haben, wir »bestehen« auf der Leerheit der Phänomene, und entziehen uns der Verantwortung gegenüber unseren Handlungen.
Der Sinn der Untersuchung ist aber: Wenn wir an dem Punkt ankommen, daß wir einen Geschmack davon haben, was die illusorische Natur der Erscheinungen und des Geistes ist, dann lassen wir selbst diese Fixierung auf die Ergebnisse der Analyse los und verweilen im natürlichen Gewahrsein, um natürlicher und entspannter zu werden.
Es geht um eine ausgewogene Darstellung der Wirklichkeit. Wir können nicht nur die letztendliche Ebene darstellen und meinen, das wäre alles. Denn der Geist ist aktiv, wir leben in einer relativen Welt, wo Ursache und Wirkung tatsächlich die entscheidende Rolle spielen.
Der Spruch »Betrachte alle Erscheinungen als Traum« (2. Merksatz) über die traumgleiche Natur der Phänomene führt zu einem Nachlassen unseres Wirklichkeitsglaubens, unseres Glaubens an die Wirklichkeit der Dinge in eine Erfahrung von Leerheit hinein.
Der nächste Spruch »Untersuche die Natur des ungeborenen Gewahrseins« (3.) hilft uns, diese Erfahrung zu analysieren, und es entsteht ein Verständnis, das auch diese Erfahrung und das Subjekt der Erfahrung, wir selbst, dieselbe Natur der Leerheit haben.
Der Merkspruch »Lasse auch das Heilmittel sich natürlich befreien« (4.) nun hilft uns zu bemerken, daß auch dieses Verständnis nichts Greifbares ist.

(gekürzt aus: Lama Lhündrup, Erklärungen zum Lodjong-Kommentar von Jamgön Kongtrul Lodrö Thaye »Der Hauptweg zur Erleuchtung«, Einführung zu den Sieben Punkten des Mahayana-Geistestrainings, Freiburg, 26. Dezember 2005 bis 1. Januar 2006, S. 30ff)

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3. »Untersuche die Natur des ungeborenen Gewahrseins«

(Während das Ziel des vorhergehenden Merksatzes war, sich der Nicht-Wirklichkeit oder -Wesenhaftigkeit der Erscheinungswelt bewußt zu werden, dient dieser Merksatz dazu, sich der Nicht-Wirklichkeit oder -Wesenhaftigkeit des »Ich« – und des Geistes selbst – bewußt zu werden.)

Chögyam Trungpa Rinpoche kommentiert: Wenn Sie Ihren Geist anschauen (was Sie in Wirklichkeit gar nicht tun können, aber Sie tun so als ob), stellen Sie fest, daß nichts da ist. Sie erkennen, daß es nicht gibt, was Sie festhalten können. Doch zugleich ist er Gewahrsein, denn Sie nehmen ja wahr. Kontemplieren Sie, wer nun eigentlich die Dharmas als Träume wahrnimmt (wie im 2. Merksatz).

Lama Lhündrup kommentiert: Die Frage nach dem Geist stellt sich, weil es ja schließlich unser Gewahrsein ist, das alles wahrnimmt, und entweder anhaftet oder nicht anhaftet. Wenn ich über Erscheinungen spreche, kann ich jetzt nicht unterlassen, auch über den Geist zu sprechen, über das Gewahrsein.
Der (vorherige) Merkspruch, die Erscheinungen wie einen Traum zu betrachten, führt dazu, daß wir alle Objekte der Wahrnehmung untersuchen und schauen, ob es sich dabei um etwas wirklich Existentes handelt. Alles was wir wahrnehmen ist aber nur eine Bewegung im Geist.
Der zweite Schritt ist dann, den Geist selbst zu untersuchen. Wir suchen nach dem Gewahrsein, das all diese Erscheinungen wahrnimmt. Dafür müssen wir uns entspannen und eine geistige Ruhe zur Verfügung haben, um den Blick nach innen wenden zu können, um zu schauen: Wo finde ich denn dieses Gewahrsein, wo ist es? Die Fähigkeit, den Blick so nach innen zu wenden, entsteht nur, wenn wir einigermaßen ruhig sind, wenn wir geistige Ruhe (Shine), entwickelt haben.
Ein großer Fehler, der sich einstellen kann, ist, daß wir die traumgleichen Erscheinungen aus der Ich-Perspektive eines Filmzuschauers zu betrachten und gar nicht bemerken, daß wir selbst Teil dieses sich ständig wandelnden Filmes sind und es uns in einer Ich-Perspektive einrichten. Alles um uns herum ist wie der Film auf einer Leinwand, aber ich selbst bin das konstante Etwas, das alles betrachtet. Das ist ein Irrtum. Jetzt schauen wir dieses Etwas an, das da so konstant und bleibend erscheint, und entdecken, daß es nur ein ständiger Fluß von Gedanken, immer im Wandel, nicht greifbar, keine letzte Essenz, die man greifen könnte – und wir sind Teil des ständig sich wandelnden Schauspiels.

(aus: Chögyam Trungpa Rinpoche, Erziehung des Herzens, Buddhistisches Geistestraining als Weg zu Liebe und Mitgefühl, Arbor Verlag 2007, S. 48f
und
Lama Lhündrup, Erklärungen zum Lodjong-Kommentar von Jamgön Kongtrul Lodrö Thaye »Der Hauptweg zur Erleuchtung«, Einführung zu den Sieben Punkten des Mahayana-Geistestrainings, Freiburg, 26. Dezember 2005 bis 1. Januar 2006, S. 28f)

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2. »Betrachte alle Erscheinungen als Traum«

Lama Lhündrup kommentiert: Es ist wichtig, die Formulierung genau zu betrachten: »Betrachte alle Erscheinungen als Traum» bedeutet nicht: »Die Erscheinungen sind ein Traum«, sondern wir betrachten sie in Analogie zu unserer Erfahrung des Träumens.
Die Analogie ist folgende: Wenn wir schlafen, tauchen Träume auf. Den Träumen, wenn wir im Traum sind, schenken wir vollkommenen Glauben. Wir lassen uns von den Träumen zu emotionalen Reaktionen hinreißen. Wir folgen ihnen, als wären sie wahr. Im Aufwachen merken wir: Ach, das war ja bloß ein Traum! Damit haben die emotionalen Reaktionen ein Ende. Um diese Analogie geht es: das Einschlafen, das Verweilen in Unwissenheit, das Für-wirklich-Halten und das Erkennen, daß es gar nicht so wirklich war.
Im Alltag läuft das ähnlich. Wir sind in einer grundlegenden Unwissenheit, in der wir von einem Ich ausgehen, in Abgrenzung zu allem anderen, nicht nur zu anderen Menschen. In dieser grundlegenden Unwissenheit schreiben wir uns selbst und all dem, was an Situationen auftaucht, eine Wirklichkeit zu und reagieren darauf mit Emotionen.
Wenn wir zu der eigentlichen Natur der Dinge erwachen, dann merken wir, daß wir überhaupt nicht auf diese emotionale Art und Weise zu reagieren brauchen, sondern daß wir im Grunde genommen ständig unseren geistigen Projektionen auf den Leim gehen. Das nennt man das Erwachen, und in dem Moment ist auch die Reaktion vorbei. Der Ausstieg aus diesen Interpretationen und dem Reagieren auf all das, wie wir die Welt sehen, ist schon ein Anfang des Erwachens.
Es wäre aber verkehrt sich zu sagen, der Geist selbst würde als etwas Leeres existieren, getrennt von den Erscheinungen. Es geht jetzt nicht darum, allem das Etikett aufzudrücken, »illusorisch und deswegen leer, deshalb brauche ich mich nicht darum zu kümmern«. Sondern es geht darum, ein feines Gefühl von der illusorischen Natur der Dinge zu entwickeln, gerade weil sie uns ja so beschäftigen und weil sie ganz offensichtlich existieren – ihre offensichtliche Existenz wird nicht geleugnet.

(gekürzt aus: Lama Lhündrup, Erklärungen zum Lodjong-Kommentar von Jamgön Kongtrul Lodrö Thaye »Der Hauptweg zur Erleuchtung«,
Einführung zu den Sieben Punkten des Mahayana-Geistestrainings, Freiburg, 26. Dezember 2005 bis 1. Januar 2006, S. 27).

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1. »Als Erstes schule dich in den Vorbereitungen«

»Lo tog nampa shi« heißen sie im Tibetischen, »die vier Gedanken, die den Geist umwenden«. Sie lehren uns alles, was wir benötigen, um Praktizierende des Dharma zu werden. Sie sind eine tägliche Bestandsaufnahme: Was habe ich erreicht? Wo will ich hin?
»Sie sind äußerst wichtig, sowohl für die Dharmapraxis als auch für den Alltag. Nur mit einem klaren Verständnis von der eigenen Situation wird man den Wunsch nach Befreiung von Leiden und nach Erleuchtung zum Nutzen der Wesen entwickeln. Viele falsche Vorstellungen über das eigene Leben lösen sich auf und man entwickelt Mitgefühl mit allen Lebewesen. Mit diesem Verständnis wird jede Dharmapraxis sehr kraftvoll. Andererseits kann man sagen, daß der hauptsächliche Grund für Schwierigkeiten mit der Dharmapraxis darin liegt, daß man diese vier grundlegenden Gedanken nicht wirklich verstanden hat.« (Manfred Seegers, Sichtweise und Meditation, Buddhismus Heute Nr. 21, 1996)

Werden wir uns folgender vier Lebenstatsachen bewusst:

1. der Kostbarkeit des menschlichen Lebens und insbesondere des glücklichen Umstands, daß wir in einer Umgebung leben, die es uns ermöglicht, die Lehren des Dharma zu hören und anzuwenden. Wir haben jetzt und hier die allerbesten Bedingungen. Selbst falls die Bedingungen noch besser werden – gute Bedingungen alleine führen nicht zur Verwirklichung, und verstrichene Zeit lässt sich nicht nutzen.
Milarepas letzte Belehrung an Gampopa war »Dies ist die tiefgreifendste Dharma-Belehrung: Praktiziere!« (lt. Stewart, Life of Gampopa, S. 83)

2. Werden wir uns der Realität der Vergänglichkeit bewußt: daß die begünstigten Umstände, die wir jetzt haben, sich ändern können – sie ändern sich natürlich unablässig die ganze Zeit, aber sie können sich in einem Maße ändern, daß die Bedingungen für die Praxis nicht mehr zusammenkommen, weil die äußeren Umstände es nicht mehr gestatten, oder auch weil der Geist aus Sorge und Befürchtung keine Ruhe für die Meditation mehr findet.
Und trotzdem ist die Sichtweise nützlich, zu verstehen, daß es keine Umstände und Situationen gibt, in denen wir nicht praktizieren können. Die geschickten Mittel des Dharma jedenfalls machen das möglich. Bei der Zufluchtnahme sagt der Lama: »Dies sind die Mittel!« – was bedeutet: Anwenden müssen wir sie selbst.

3. Werden wir uns des Karmas bewusst – daß alles, was wir tun, uns immer mit Ursache und Wirkung begleitet. Wir sind kein Spielball des Zufalls. Wir tragen die Verantwortung für unsere gegenwärtige Situation und gestalten unsere Zukunft. Was im Geist erscheint, ist unser Karma, was wir daraus machen, zeigt unserer Reife.
Nur ein klares Verständnis vom Abhängigen Entstehen bringt wirkliche Freiheit, denn mit diesem Verständnis erkennen wir, daß es keinerlei unabhängige oder für sich bestehende wahrhafte Existenz in dem gibt, was wir erleben und wahrnehmen. Abhängiges Entstehen, das Geflecht von Ursachen, Wirkungen und Bedingungen, sowie die Leerheit von unabhängiger Existenz sind die beiden untrennbaren Merkmale aller Erscheinungen.

4. Bemerken wir die Intensität und Unvermeidlichkeit des Leidens: Unseres Leidens (und unserer Möglichkeiten und Gewohnheiten, uns davon abzulenken) – und des Leidens aller anderen fühlenden Wesen. Die meisten haben nicht die Möglichkeiten wie wir, damit umzugehen, und noch weniger haben sie die Möglichkeit, es loszuwerden.
Die unmittelbare Erfahrung der Natur des Geistes – wirkliche Befreiung von allem Leid – zeigt sich als Freude, die nicht mehr von Bedingungen abhängig ist. Zugleich sind wir jenseits aller Trennungen von den anderen Wesen – dadurch entsteht Mitgefühl, denn wir erkennen, wie sie sich fühlen. Verbunden mit Furchtlosigkeit haben wir die glückbringende Fähigkeit, anderen die Möglichkeiten der Befreiung aufzeigen zu können.

Wir haben immer die Wahl, mehr wie Prinz Siddhartha oder mehr wie sein Vater, der König Suddhodana zu sein: der zukünftige Buddha sieht bei seinen ersten Ausfahrten aus dem Palast Alter, Krankheit, Tod und einen Meditierenden – und er schaut hin. Es entsteht das Bedürfnis, bleibende Werte zu finden.
Sein Vater, als er das bemerkt, versucht, ihn mit aller erdenklichen Jugend und Schönheit abzulenken.
Wir selbst sind manchmal wie Siddhartha und manchmal wie sein Vater.
Siddharta hat seine Möglichkeiten genutzt.

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Lojong

Lojong bedeutet wörtlich »den Geist trainieren« oder »den Geist umwandeln«.
Diese Belehrungen, die die Praxis des Erleuchtungsgeistes – speziell des relativen Erleuchtungsgeistes – und das »Austauschen von sich selbst mit anderen« (Tonglen) betonen, wurden durch den bengalischen Dharmalehrer Atisha (982-1054) nach Tibet gebracht, wo er die letzten dreizehn Jahre seines Lebens verbrachte.
Diese Belehrungen waren ursprünglich nicht weit verbreitet gelehrt – bis zur Zeit von Chekawa Yeshe Dorje (1101-1175), der das »Geistestraining in Sieben Punkten« als komprimierte Notizen zusammenstellte, damit seine Schüler sie sich leichter einprägen konnten. Die Aktivität Chekawas führte dazu, daß Atishas Geistestraining seit vielen Jahrhunderten bis zum heutigen Tag in allen wichtigen Linien des tibetischen Buddhismus praktiziert wird. Durch Gampopa (1079-1153) kamen diese Belehrungen in die Kagyü-Linie.

Das Geistestraining ist eine umfassende buddhistische Praxis und beinhaltet den gesamten Weg. Der Wurzeltext der »Sieben Punkte des Geistestrainings« ist eine Liste von 59 Merksätzen, die eine grundlegende Zusammenfassung der Sicht und der praktischen Anwendung der Belehrungen des Erleuchtungsgeistes beinhaltet. Das Studium und die Praxis dieser Merksätze bietet uns auf anwendbare und direkte Weise die Möglichkeit, unser Festhalten am Ego zu lösen und Mitgefühl zu entwickeln. Mit Hilfe des Lojong erkennen wir, daß unsere Selbstbezogenheit eine gewohnheitsmäßige Tendenz ist und sich selbst in den winzigsten Gedanken und Handlungen manifestiert. Diese Tendenz beeinflusst all unser Tun, selbst sogenanntes wohlmeinendes Verhalten. Es ist eine sehr pragmatische, realistische Praxis.
Die Merksätze geben uns eine Methode an die Hand, um mit unseren Geist zu arbeiten, indem wir sowohl die formale Meditationspraxis als auch das alltägliche Geschehen (»die Praxis der Nachmeditation«) als Mittel zum Erwachen zu verwenden. Die Praxis der Nachmeditation basiert darauf, daß man sich mitten im Alltag spontan an den jeweiligen Merksatz erinnert. Damit ist nicht gemeint, daß man sich angestrengt darum bemühen soll, in Übereinstimmung mit den Merksätzen zu handeln, sondern das Studium und möglicherweise das Auswendiglernen der Merksätze löst ein Erinnern aus – sie tauchen ganz mühelos mit ihren teilweise spielerischen und ironischen Elementen immer wieder spontan im Geist auf.

Trungpa Rinpoche lies auf seinen Seminaren diverse Merksätze in kalligrafischer Schrift gestalten und an allen möglichen Orten aufhängen. Man wusste nie, wo man ihnen begegnen würde. Er empfiehlt uns, die Merksätze auf Karten zu schreiben und diese in unserer alltäglichen Umgebung als Erinnerung, »Wachmacher« und Provokateure zu verwenden.

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59. »Erwarte keinen Dank« (Kommentar 2)

Traleg Kyabgon Rinpoche kommentiert: Es ist recht einfach, unsere weltlichen Gewohnheitsmuster und Selbsttäuschungen auf unsere Dharmapraxis zu übertragen.
Selbst wenn wir Fortschritte bei unserer Praxis gemacht haben, sollten wir nicht erwarten, daß sich die Bäume vor uns verbeugen oder himmlische Lichterscheinungen den Himmel erleuchten. Solche Darstellungen würden ohnehin nichts bedeuten.
Wir machen unsere Praxis mit Aufrichtigkeit und betrachten sie als Ziel in sich selbst. Wenn wir die Erwartung ablegen, daß große »Belohnung« uns erwartet, erkennen wir, daß wir die ganze Zeit belohnt werden – jedes Mal, wenn wir den Erleuchtungsgeist entwickeln, wenn wir an jemand anderen denken, wenn wir auf unserem Meditationskissen sitzen, nützen wir auch uns selbst. Das ist der Zweck der Übung. Was für einen weiteren Nutzen gibt es jenseits davon, herauszufinden, als daß unsere Handlungen in sich erfreuend sind, bedeutungsvoll und nutzbringend?

(gekürzt und übersetzt aus: Traleg Kyabgön Rinpoche, The Practice of Lojong, Cultivating Compassion through Training the Mind, Shambhala 2007, S. 232)

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59. »Erwarte keinen Dank« (Kommentar 1)

Jamgön Kongtrul Rinpoche kommentiert: Wenn du den Dharma praktizierst, anderen hilfst oder heilsame Handlungen ausführst, hege keinerlei Hoffnung, daß andere darauf mit Dank oder Worten der Anerkennung antworten werden. Um es kurz zu sagen: Gib das Hoffen auf einen guten Ruf vollkommen auf.

Lama Lhündrup kommentiert: In der Serie aller Merksätze ist dies der letzte Satz, und er hat eine besondere Bedeutung.
Natürlich geht es auch um die täglichen Situationen, in denen wir ein Dankeschön erwarten für das Gute, das wir anderen tun. Auch das laßt uns völlig aufgeben, denn das macht unsere Dharmapraxis abhängig vom Dank der anderen.
Es gibt noch eine spezielle Variante dieses Hoffens auf Dank. In der Beziehung zum Lama versuchen wir manchmal, Anerkennung für unsere Praxis zu bekommen. Wie gut wir praktiziert haben. Die Lehrer sind alle total dankbar für unsere Praxis. Alle sind wir dankbar, wenn andere praktizieren. Aber das ist keine persönliche Dankbarkeit, die man sich stolz in die Tasche streichen könnte. Es ist einfach: Danke, daß es Menschen in der Welt gibt, die den Dharma leben. Das ist wunderbar, das ist genau das, was nötig ist.
Darüber hinaus eine persönliche Anerkennung für irgendetwas, das man für den Dharma getan hat oder im Dharma praktiziert hat, wird es selten geben. Jeder gibt sich voll und ganz, wir sind eine Familie, in der man sich nicht zurückhält, alle tun dasselbe, es ist nicht nötig, darüber noch zu sprechen.

(gekürzt aus: Lama Lhündrup, Erklärungen zum Lodjong-Kommentar von Jamgön Kongtrul Lodrö Thaye »Der Hauptweg zur Erleuchtung«, Einführung zu den Sieben Punkten des Mahayana-Geistestrainings, Freiburg, 26. Dezember 2005 bis 1. Januar 2006, S. 114)

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58. »Sei nicht launisch«

Jamgön Kongtrul Rinpoche kommentiert: Beunruhige nicht den Geist deiner Gefährten, indem du schon bei kleinsten Dingen Gefallen oder Mißfallen kundtust.

Lama Lhündrup kommentiert: Hier geht es um ein Verhalten, bei dem alles, was in uns los ist, jede kleine Schwierigkeit und angenehme Situation, direkt nach außen gegeben wird. Wie es mir gerade geht, was mir gefällt, was mir nicht gefällt. Man kann eine ganze Gruppe damit beschäftigt halten.
Gendün Rinpoche erklärte dazu, daß es ein Mangel an Respekt und Mitgefühl ist, ständig seine emotionalen Zustände auszubreiten, eine Flucht vor sich selbst und vor der Emotion. Man gibt sie nach außen, statt sie verantwortlich innen zu bearbeiten.
Als Dharmapraktizierende lernen wir, die Emotionen zu halten, und in uns auflösen zu lassen. Wenn es sich um starke Emotionen handelt und um tiefere Dinge, ist es gut, sie nach außen zu bringen, aber nicht die Kleinigkeiten des Alltags. Wenn wir etwas nach außen bringen, zwingen wir den anderen, zuzuhören und mit unserer Geschichte umzugehen. Das sollten wir uns aufheben für Dinge, die uns wichtig sind und bei denen es sinnvoll ist. Der andere wird dann auch freudig darauf eingehen. Wenn wir das ständig tun, ist gar keine Kraft mehr da, uns zu helfen, wenn es mal wirklich wichtig ist.

(gekürzt aus: Lama Lhündrup, Erklärungen zum Lodjong-Kommentar von Jamgön Kongtrul Lodrö Thaye »Der Hauptweg zur Erleuchtung«, Einführung zu den Sieben Punkten des Mahayana-Geistestrainings, Freiburg, 26. Dezember 2005 bis 1. Januar 2006, S. 113f)

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57. »Verfange dich nicht in Reizbarkeit«

Jamgön Kongtrul Rinpoche kommentiert: Hege keine eifersüchtigen Gedanken über andere. Wenn dich andere beleidigen, dir Schaden zufügen oder dergleichen, dann reagiere nicht, sondern löse alle Gereiztheit in dir auf. Der Dharma soll als Heilmittel fürs Ich-Anhaften eingesetzt werden.

Lama Lhündrup kommentiert: Hier geht es um Reizbarkeit. Solange der Dharma noch nicht wirklich Eingang in uns gefunden hat und zu einem Schwächen der Ichbezogenheit geführt hat, laufen wir mit Empfindlichkeit durch die Gegend. Selbst kleine Dinge regen uns auf, berühren uns und machen uns zu schaffen.
[Zum Beispiel in] Dharmagruppen – tut mal zehn wohlwollende Menschen auf einen Haufen und laßt diese ein Projekt organisieren, eine Aktivität über einen gewissen Zeitraum. Aufgrund der bestehenden Empfindlichkeit eines jeden wird es durch ungeschicktes oder auch ganz normales Verhalten dazu kommen, daß schwierige, noch nicht aufgearbeitete, noch nicht freie Punkte berührt werden. Wenn in der Dharmagruppe dann tatsächlich Menschen sind, die an ihrer Ichbezogenheit schon gearbeitet haben, dann werden die Dinge deutlich einfacher. Es reicht, wenn ein paar davon in einer Gruppe sind, sie werden sehr harmonisierend, sehr ausgleichend wirken und manches auffangen können.
Hier ist der Punkt nicht, daß wir nicht empfindlich sein sollten, sondern uns nicht darin verfangen sollten. Wir werden berührt, aber wir geben dem nicht diese große Bedeutung. Wir lernen, es als eine Erfahrung zu nehmen, die zeigt, daß wir jetzt gerade in dem Moment doch etwas stark im Ich waren und deswegen tut’s weh, aber wir machen daran nicht weiter, es entsteht ein Streit daraus.

(gekürzt aus: Lama Lhündrup, Erklärungen zum Lodjong-Kommentar von Jamgön Kongtrul Lodrö Thaye »Der Hauptweg zur Erleuchtung«, Einführung zu den Sieben Punkten des Mahayana-Geistestrainings, Freiburg, 26. Dezember 2005 bis 1. Januar 2006)

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56. »Mache kein Aufheben«

Jamgön Kongtrul Rinpoche kommentiert: Wenn du anderen gegenüber freundlich bist, mache kein Aufheben darum, denn schließlich übst du dich ja darin, andere wichtiger als dich selbst zu nehmen. Gelehrt zu sein, den Dharma zu praktizieren und über längere Zeit Schwierigkeiten auf dich zu nehmen und dergleichen ist schließlich zu deinem eigenen Nutzen. Es ist deshalb unsinnig, sich anderen gegenüber sich damit zu brüsten. Versuche nicht, dich gut zu verkaufen.

Lama Lhündrup kommentiert: Es ist ein Merkspruch, der mit unserer Tendenz zu tun hat, stolz auf die eigene Dharmapraxis zu sein. Das ist absurd, weil wir ja unweigerlich selbst den größten Nutzen von dieser Dharmapraxis haben. Wir sind eigentlich genau wie alle anderen. Wir wollen selbst glücklich sein. Da wir aber dem Dharma begegnet sind, sind wir jetzt sehr viel besser ausgerüstet, um dieses Glück finden zu können. Unweigerlich wird diese Praxis für uns große Früchte abwerfen. Je mehr wir in unserer Praxis an andere denken, desto größer werden die heilsamen Früchte für uns sein. Das ist ein Paradox, das ist kein Dilemma, das ist einfach so, wie die Dinge sind.
Der Merkspruch bedeutet im Grunde genommen: Bleibe bescheiden. Es ist ganz wichtig, sich einzugestehen, daß die Praxis tatsächlich auch zu unserem Wohl ist. Und das darf und soll auch so sein.

B. Alan Wallace kommentiert: Wir mögen unsere große Freundlichkeit herausheben, die wir anderen gegenüber gezeigt haben, derer sich der andere vielleicht nicht bewusst war. Oder wir beschreiben, wir gut unsere Praxis läuft, welche staunenswerten Einsichten wir während unserer Zurückziehung erreicht haben, wie genügsam wir waren, nur drei Stunden Schlaf pro Nacht… Selbst wenn das alles zutreffend ist, ist diese Erhebung unserer eigenen Größe kein Zeichen von Reife. Anstatt daß es als Gegenmittel gegen unsere geistigen Zustände dient, füttert es nur unsere Selbstbezogenheit und unser Gefühl von außergewöhnlicher Wichtigkeit.

(gekürzt aus: Lama Lhündrup, Erklärungen zum Lodjong-Kommentar von Jamgön Kongtrul Lodrö Thaye »Der Hauptweg zur Erleuchtung«, 2006, S. 112f und
gekürzt und übersetzt aus: B. Alan Wallace, The Seven-Point Mind Training, Snow Lion 1992)

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55. »Befreie dich durch Prüfen und Erforschen«

Lama Lhündrup kommentiert: Um die Praxis zu vertiefen, ist der erste Schritt, wach zu bleiben, was die Emotionen angeht, und die Art und die Intensität unserer Emotionen unterscheiden zu lernen. Wenn wir eine starke Emotion bemerken, lassen wir sie nicht durchgehen und wenden die Gegenmittel an. Kleine Emotionen vergehen von selbst, da brauchen wir nicht immer mit einem Gegenmittel zu reagieren.
Jetzt kommt der zweite Schritt, der etwas mit dem Stimulieren von Emotionen zu tun hat. Wenn wir bemerken, daß keine Ichbezogenheit vorhanden zu sein scheint, dann klopfen wir mal ein bisschen an und denken über etwas nach, das geeignet erscheint, Emotionen hoch zu holen. Dann wenden wir darauf das Tonglen an, oder andere Formen der Bodhicitta-Praxis.
Ein Beispiel: Wir haben wirklichen Ärger gehabt mit einer Person, haben auch damit gearbeitet. Das hat sich beruhigt, wir fühlen uns im Reinen mit der Person. In dieser Situation, wo wir uns frei fühlen, rufen wir uns noch einmal alles in Erinnerung, was uns aufgeregt hat, und schauen, ob das noch Emotionen hervorruft – kratzen da mal ein bisschen, um aus dem oberflächlichen Frieden herauszufinden. Dazu brauchen wir einen Moment, eine halbe Stunde auf dem Kissen, um diese Arbeit zu machen. Das Gute dabei ist, daß wir, indem wir so bewusst nachhaken und uns bewusst schwierigeren Dingen stellen, uns dadurch auf zukünftige Situationen vorbereiten. Das ist die beste Vorbereitung, um mit schwierigeren Situationen in der Zukunft umzugehen.  

(gekürzt aus: Lama Lhündrup, Erklärungen zum Lodjong-Kommentar von Jamgön Kongtrul Lodrö Thaye »Der Hauptweg zur Erleuchtung«, Einführung zu den Sieben Punkten des Mahayana-Geistestrainings, Freiburg, 26. Dezember 2005 bis 1. Januar 2006, S. 111f)

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54. »Übe aus ganzem Herzen«

Lama Lhündrup kommentiert: In den Erklärungen von Gendün Rinpoche finden wir, daß wir aus ganzen Herzen voller Entschlossenheit praktizieren, aber ohne dabei steif zu werden – Entschlossenheit bei erhöhter Flexibilität!

Traleg Kyabgon Rinpoche kommentiert: Ein Einsatz aus ganzem Herzen bedeutet nicht, am Anfang ein großes Aufheben [um die Praxis] zu machen, und nur danach zu beurteilen, ob sie gleich zu Beginn gut läuft – und im anderen Falle zu [einer anderen Praxis zu] wechseln. Ein Engagement aus ganzem Herzen beinhaltet keine sporadischen Anstrengungen, sondern eher einen besonnenen, einsichtsvollen Einsatz über einen längeren Zeitraum.
Dabei ist Mut auch ein bedeutungsvoller Bestandteil der Praxis, und es besser, das, was wir erreichen wollen, zu überschätzen als es unterzubewerten: Denke wir nicht »Ich habe lieber kleine Ziele, denn ich habe nur das Vermögen, eine etwas besserer Praktizierender zu werden.« Sicherlich dürfen unsere Erwartungen lebensnah sein, und wir erreichen sie nur stufenweise, aber es ist sinnvoll, das große Ziel zu sehen und es ohne Erwartungen und Befürchtungen anzustreben, und die Herausforderungen nicht zu scheuen, sondern zu lernen, sie offenherzig anzugehen.

(gekürzt aus: Lama Lhündrup, Erklärungen zum Lodjong-Kommentar von Jamgön Kongtrul Lodrö Thaye »Der Hauptweg zur Erleuchtung«, S. 111
und
gekürzt und übersetzt aus: Traleg Kyabgon Rinpoche, The Practice of Lojong, Cultivating Compassion through Training the Mind, Shambhala 2007, S. 229)

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