Über den Erleuchtungsgeist

I.
Wenn Du etwas beginnst, beginne es mit dem Erleuchtungsgeist.
Wenn Du etwas bedenkst, bedenke es mit dem Erleuchtungsgeist.
Wenn Du etwas entscheidest, entscheide es mit dem Erleuchtungsgeist.
Wenn Du etwas beendest, beende es mit dem Erleuchtungsgeist. .1
»Der Erleuchtungsgeist ist das Herz der Praxis von Sutra und Tantra. Er ist eine einfache Praxis. Mit Bodhicitta ist alles vollständig. Ohne Bodhicitta bleibt alles unvollständig,« sagt Dilgo Khyentse Rinpoche2, und »Mit dem Erleuchtungsgeist erhalten die Sechs Vollkommenheiten (Paramitas) oder die tantrischen Versprechen erst ihren Sinn. Sie mögen schon für sich genommen äußerst heilkräftig sein, aber ihre eigentliche Bestimmung und die durchdringende Grundlage erhalten sie erst dann.«

II.
»Zu praktizieren, ohne Bodhicitta hervorgerufen zu haben, ist so, als würden wir versuchen, einen Lotus auf trockenem Land heranzuziehen.«
Atisha (11 Jh.)
Ein Lotus braucht Feuchtigkeit, er wächst aus dem Schlamm und aus dem Wasser, und es anders zu versuchen, wird keine Früchte tragen.
Das Wasser steht für das Mitgefühl. Der Schlamm steht für Samsara. Aus dem Erkennen des Schlammes heraus entsteht mehr und mehr Mitgefühl, und dieses zusammen gibt die Kraft, die den Lotus zur Entfaltung bringt. Der Lotus selbst wird genährt von der Wärme und dem Licht der Sonne – dem Segen der Buddhas – und öffnet sich dann über der Wasserfläche völlig makellos. Aber er bleibt immer verbunden mit dem Schlamm und ist immer im Wasser, und das ist, wie eine korrekte Praxis aussieht: Zwar frei von aller Verwicklung in Samsara, aber doch immer durch Mitgefühl und Weisheit verbunden mit dem Relativen. 3

III.
Erinnere Dich an den Erleuchtungsgeist, wenn Du Freude erlebst.
Erinnere Dich an den Erleuchtungsgeist, wenn Du Angst hast.
Erinnere Dich an den Erleuchtungsgeist, wenn dein Mut schwindet.
Erinnere Dich an den Erleuchtungsgeist, wenn Du nachlässt, etwas für andere zu tun.
Erinnere Dich an den Erleuchtungsgeist, wenn Du träge wirst.
Erinnere Dich an den Erleuchtungsgeist, wenn Du Dich niedergeschlagen fühlst. 4

Der Erleuchtungsgeist verwandelt alles Heilsame in eine Ursache zur höchsten Erleuchtung. Und selbst Störende Gefühle, Leiden und Angst, Krankheit und Tod werden mit dem Erleuchtungsgeist zum Pfad.

VI.
Selbst wenn ein Juwel zerbricht,
wird es doch weiter Juwel genannt.
Genauso wird selbst ein Aufblitzen des Erleuchtungsgeistes
Erleuchtungsgeist genannt. 5
Unabhängig von unseren momentanen Fähigkeiten und Möglichkeiten, vielen anderen Wesen wirklich helfen zu können, ist schon der Wunsch allein, ihnen helfen zu wollen, höchst nutzbringend. Er bringt uns der Verwirklichung dieses Wunsches näher, und lässt unsere Möglichkeiten stetig wachsen, bis hin zu vollen Verwirklichung.
Die Leerheit des Geistes – der Raum, der alles ermöglicht – ist untrennbar verbunden mit der Klarheit des Geistes – der Fähigkeit, wahrzunehmen, zu wissen und zu gestalten. Kraft dieser gestaltenden Fähigkeit des Geistes entsteht eine Ausrichtung in unserem Geistesstrom, die die notwendigen förderlichen Bedingungen entstehen lässt. »Wünsche sind sehr, sehr kraftvoll. Ihr wärt überrascht, wenn ihr wüßtet, wie kraftvoll sie sind,« sagt Lama Ole.

V.
Die mit dem Erleuchtungsgeist verbundene Absicht ist die höchste.
Die mit dem Erleuchtungsgeist verbundene Meditation ist die höchste.
Die mit dem Erleuchtungsgeist verbundenen Taten sind die höchsten.
Die mit dem Erleuchtungsgeist verbundene Frucht ist die höchste.6
Manche reden über »höhere« und »niedrigere« Meditationspraktiken so, als ob nur die »höheren« Verwirklichung ermöglichen würden. Aber das ist, als würde man sagen: Ein Meisel ist nicht so gut wie eine Schaufel, oder ein Bohrer ist besser als eine Säge.
Alle buddhistischen Meditationen führen zu einer Verwirklichung. Das bedeutet, in ihrer Essenz gibt es keine höheren oder niedrigeren Praktiken, es gibt nur höhere oder niedrigere Praktizierende. Jede Praxis ist in ihrer Funktion vollkommen. Jede Praxis ist vollkommen für den Schüler, auf dessen Fähigkeit sie abgestimmt ist – dann ist sie für ihn die höchstmögliche Praxis.7
Es ist nicht die Form der Praxis, die den Praktizierenden definiert – es ist die Motivation. Es gibt keine Praxis unabhängig vom Praktizierenden. Erkennen wir als tantrische Praktizierende die Bedeutung des Erleuchtungsgeistes nicht und praktizieren die geschickten Mittel des Vajrayana ohne die unentbehrliche Grundlage der Verwirklichung – den Erleuchtungsgeist – so ist die höchste Stufe, die wir dabei erreichen, die eines Arhat, der höchsten Verwirklichung des Kleinen Fahrzeugs. Sie führen nicht zur Buddhaschaft. So lässt sich tatsächlich das Vajrayana im Stil des Hinayana praktizieren.

VI.
Wo auch immer sich Verdienste entfalten,
welche vom Juwel des Erleuchtungsgeistes gekrönt werden,
jene Orte werden so besonders sein,
wie die Orte, an denen unser erhabener Lehrer weilte.8
Wer Bodhicitta im Herzen trägt, wird eine direkte Beziehung zum Lehrer suchen, er wird praktizieren, um auf dem Weg zur Erleuchtung selbst schneller vorwärts zu kommen, um besser helfen zu können. Wo Bodhicitta ist, wird alles andere natürlich: Da wird es natürlich, aufzustehen und sich zur Praxis zu setzen. Es wird natürlich, nach den Unterweisungen das, was man verstanden hat, anzuwenden.
Bodhicitta ist tatsächlich das Herz der Praxis. Wie sollten wir Mahamudra verwirklichen ohne Bodhicitta? Welche Kraft in der Welt würde denn bewirken, dass wir unser Ich-Anhaften aufgeben? Mahamudra ist Freisein von Ichbezogenheit. Es gibt gar nichts anderes, was Mahamudra verhindern könnte, als daß unser Bodhicitta noch ein bißchen schwach ist. Darum besteht die Mahamudra-Praxis darin, Bodhicitta zu stärken. Darum sprechen wir vom Mahamudra des Mitgefühls, vom Mahamudra der Hingabe. Wo das Bodhicitta stark ist, ist starke Hingabe zu den Lehrern vorhanden, die uns das Bodhicitta vorleben. Bodhicitta ist die Basis. Wir können den Lehrer gar nicht verstehen, nicht in seinen Geistesstrom eintreten, wenn wir nicht sein Bodhicitta erspüren können. Wer das Bodhicitta des Lamas erspürt, der ist bereits im Geist des Lamas, der braucht sich gar nicht mehr darum zu kümmern, noch ein weiteres Guru-Yoga auszuführen, weil das bereits der Lama ist, dann sind wir im Geist des Lamas und damit öffnet sich auch die Mahamudra-Dimension.9

VII.
Milarepa singt »Wenn ich alleine bin, meditierend in den Bergen, sind die Buddhas der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft immer bei mir. Mein Lama Marpa ist immer bei mir. Alle fühlenden Wesen sind immer bei mir.«10
Chökgyur Lingpa Rinpoche fasste diese Punkte in einer Kernbelehrung zusammen, die kürzer kaum sein könnte: »Guru I never forget. Sentient beings I never forget.«
Wenn wir alleine auf unserem Kissen sitzen und Meditationen zusammen mit dem Erleuchtungsgeist ausführen, mag es wohl so aussehen, als seien wir alleine – aber alle Wesen sind in wechselseitiger Abhängigkeit, entstanden in gemeinsamem Zusammenentstehen – und in diesem Sinne sind sie gegenwärtig und mit einbezogen.
Genausowenig sind wir je vom Lama getrennt. »Wenn wir offen sind und Vertrauen besitzen, dann reicht es, daß wir uns hinsetzen und den Lama im Geist anrufen – und schon ist er da! Das ist möglich, auch wenn wir ihn nur ein einziges Mal getroffen haben oder ihn nur sehr selten sehen. Der Lama ist im Geist. Dort begegnen wir ihm und erhalten seinen Segen.« So faßt es Gendün Rinpoche zusammen.11

Quellen
1 Khunu Lama, »Poesie des Erleuchtungsgeistes«, Diamant-Verlag 2004, Vers 98
2 Dilgo Khyentse Rinpoche, »Die sieben tibetischen Geistesübungen. Das Herzstück buddhistischer Praxis«, S. 66
3 Lama Lhündrup, »Erklärungen zum Lodjong-Kommentar von Jamgön Kongtrul Lodrö Thaye ‚Der Hauptweg zur Erleuchtung’«
4 Khunu Lama, »Poesie des Erleuchtungsgeistes«, a.a.O., Vers 89 und 90
5 Khunu Lama, »Poesie des Erleuchtungsgeistes«, a.a.O., Vers 83
6 Khunu Lama, »Poesie des Erleuchtungsgeistes«, a.a.O., Vers 125
7 »Ngöndro – An Interview with Ngak’chang Rinpoche«, 1992, http://www.aroencyclopaedia.org
8 Khunu Lama, »Poesie des Erleuchtungsgeistes«, a.a.O., Vers 308
9 Lama Lhündrub, »Unterweisungen zu Zitaten von Gampopa, Croizet, 29.7.–10.8.2002«
10 Nyoshul Khenpo Rinpoche and Lama Surya Das, »Natural Great Perfection: Dzogchen Teachings and Vajra Songs«
11 Gendün Rinpoche, »Herzensunterweisungen eines Mahamudra-Meisters«, S. 110 ff

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